Von TOMAS KITTAN

Alle reden vom Untergang der "Titanic". Stürmen in Kinos und Theater. Verschlingen "Titanic"-Romane. Rennen zu "Titanic"-Untergangs-Partys. Doch die Katastrophe vom April 1912, mit 1513 Toten, sie war nicht das größte Schiffsunglück aller Zeiten. Das ereignete sich 33 Jahre später auf der Ostsee. Am 30. Januar 1945 sank die "Wilhelm Gustloff". 5348 Menschen ertranken in den eisigen Fluten. Nur 1252 überlebten. Unter ihnen auch einige Berliner.

Zu den Geretteten gehörten die Marine-Sanitäts-Oberfähnriche Karl Seitz (heute 74) und Hans Wöhlbier (74), die Marinehelferinnen Eva Rotschild (72) und Ingeborg Rothenberger (1925 - 1992), der Maschinenmaat Harry Nerlich (74), der Oberleutnant zur See Paul D. (82) und das Flüchtlingskind Helene Sch. (59).

Die "Wilhelm Gustloff" war ein gewaltiges Motor-Passagierschiff, 1936/37 von der Hamburger Werft "Blohm & Voss" für 25 Millionen Reichsmark gebaut. Ein 208 Meter langer, 23 Meter breiter und 53 Meter hoher Ozeanriese. Benannt nach einem 1936 in der Schweiz ermordeten Landesgruppenleiter der NSDAP. Knapp drei Jahre lang schipperte das Schiff als Ferienkreuzer der Organisation "Kraft durch Freude" (KdF) über die Meere. An Bord: 1465 Gäste und 417 Mann Besatzung.

Doch bei Kriegsbeginn war Schluß mit "Holiday on Ship". Nichts mehr mit Freude. Großtransporte waren nun der Job der "Gustloff". Bis zu jenem 30. Januar 1945. Da wurde das Schiff zur letzten Hoffnung für 6600 Kriegsflüchtlinge.

Völlig überfüllt lief der Seeriese aus dem ostpreußischen Ostseehafen Gdingen (damals Gotenhafen) aus. Unter den frierenden Flüchtlingen zahlreiche Kinder, Verwundete und Marinehelferinnen. Ziel der Flucht vor der Roten Armee war Hamburg.

Eine gefährliche Reise. Doch das überfüllte Schiff konnte nur vier seiner 18 Motor-Rettungsboote mitnehmen. Platz für nicht einmal 400 Menschen. . .

Die Katastrophe: Um 21.10 Uhr wurde die "Gustloff" von drei russischen Torpedos getroffen.

Karl Seitz erinnert sich: "Ich erhielt einen Stoß von unten gegen meine Matratze. Dachte, mein Kumpel Pietsch hätte aus Gaudi dagegen getreten. Doch beim zweiten Stoß flog ich im hohen Bogen aus dem Bett. Sofort bekam das Schiff 30 Grad Schlagseite nach Backbord. Es wurde stockdunkel, das Licht fiel aus."

Hans Wöhlbier zur BZ: "Die Gustloff war seit 23. November 1944 mein Wohnschiff. Unsere 4-Mann-Kabine lag im oberen Promenaden-Deck. Die Torpedos trafen die unteren Flüchtlingsdecks. Dort hatte keiner eine Chance. Als ich rauskroch waren draußen minus 16 Grad, und der Wind tobte mit Stärke 7. Beim Kampf um die Rettungsboote fielen Schüsse. Überall herrschte Chaos."

Ingeborg Rothenberger, die dem BZ-Reporter schon vor 1992 von der Tragödie berichtete: "Gemeinsam mit meiner Freundin Annemarie stürzten wir im Menschenstrom nach oben. Wir traten dabei über am Boden liegende Kinder, hörten deren Schreie, mußten aber weiterrennen, um nicht selber niedergetrampelt zu werden. Es war so grausam. Es ging nur ums nackte Überleben - meine Annemarie verlor den Kampf."

Etwa eine Stunde nach den drei Volltreffern sank die "Gustloff". Kleine Flöße aus Kork waren die Rettung für Wöhlbier, Seitz und Rothenberger. Sie sprangen aus 15 bis 20 Metern Höhe von Bord und konnten sich an den Mini-Flößen festklammern.

Hans Wöhlbier und Ingeborg Rothenberger wurden nach einer halben Stunde durch Matrosen des deutschen U-Boots "Löwe" gerettet. Karl Seitz erst nach sechs Stunden von Seemännern des Dampfers "Göttingen" an Bord gehievt: "Ich war nur noch ein Eisklumpen."

Aber: Er war gerettet. Er hatte überlebt. "Ich trank Slibowitz aus einer Blumenvase", erzählt Seitz. "Der Schnaps schoß wie Feuer durch meinen Körper und brachte mich zurück ins Leben."